Samstag, 23. März 2019

Wo ist Ihr Gepäck?

Ja, die Geschichte mit dem Rabbi und dem Gepäck habe ich das erste mal bei Jack Kornfield (Frag den Budda und geh den Weg des Herzens) gelesen.

Bei ihm geht die Geschichte etwa so:

Ein Mann aus New York besucht einen für seine Weisheit berühmten Rabbi in Europa. Er hatte große Erwartungen. Schließlich findet er den Rabbi in einer kleinen Wohnung, in der nichts weiter ist als ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett und ein Regal mit einigen Büchern. Enttäuscht fragt der Mann den Rabbi:
"Wo sind ihre Sachen?"
Der Rabbi fragt zurück:
"Und wo sind ihre?"
"Ich bin nur auf der Durchreise!"
"Ich auch!"


Diese Geschichte wird sehr oft im Netz und in diversen Büchern erzählt.

Oft wird dann der Zeigefinger erhoben und darüber diskutiert, daß man durch Besitz nicht glücklich wird und daß wir uns genau überlegen sollten, was wir wirklich brauchen. Oft wird sie auch ganz unkommentiert als Inspiration zum neuen Tag präsentiert.

Ich finde, das ist alles etwas zu oberflächlich.

Jack Kornfield geht weiter. Er sagt, daß jeglicher Besitz eine Illusion ist. Wir können nichts besitzen, keine Dinge, keine Menschen oder deren Liebe - nicht einmal unseren Körper. Das ist schon radikal. Leider diskutiert auch er an dieser Stelle nicht weiter.

Ich finde die Geschichte großartig, weil sie so kurz und gleichzeitig so unglaublich tiefgründig ist. So etwas findet man selten.

Für mich ist die Geschichte wie eine Brille, mit der man die Welt aus einer ungewohnten Perspektive sehen kann. Ich versuche sie mir immer wieder mal aufzusetzen. Und so oft ich das tue, so oft verändert diese Brille wirklich meine gewohnte Sicht auf interessante Art und Weise.

Eine wichtige Beobachtung dabei ist, daß wir genau das Gegenteil von dem tun, wie der Rabbi in der Geschichte. Einen großen Teil unseres Lebens leben wir in der Illusion, daß Vergänglichkeit etwas ist, daß uns nicht so sehr betrifft. Selbst wenn wir es bei anderen sehen, sagen wir uns, das sind nur die anderen und ignorieren es. Viele alte Menschen verhalten sich so, als ob sie noch mindestens 10, 20 Jahre leben würden, obwohl sie wissen, daß die wenigsten Menschen das schaffen.

Die Psychologen haben dafür den Fachbegriff des "psychologischen Immunsystems" erfunden. Ein bemerkenswertes Konzept. Es schützt uns vor negativen Einflüssen. So versuchen wir bei unseren Fehlern immer erst mal bei anderen die Ursache. Wer im belebten Straßenverkehr unterwegs ist, weiß sofort was gemeint ist. Genauso betrachten wir unser Leben gern als ein zeitloses JETZT, in dem Vergänglichkeit nur am Rand eine Rolle spielt.

Allein dieser Widerspruch birgt viel Stoff zum Nachdenken. Es ergeben sich Fragen:
    • Warum sind wir so?
    • Können wir anders sein und wie können wir das bewerkstelligen?
    • Ist es überhaupt erstrebenswert ANDERS zu sein?
Jede einzelne dieser Fragen ist schwierig zu beantworten. Und jede Antwort führt wieder zu neuen Fragen.

So lernen wir aus der Geschichte, daß wir Probleme haben, etwas loszulassen. Die meisten von uns häufen gern Gepäck an. Es gibt uns ein Gefühl der Sicherheit. Aber wir ignorieren, daß es uns auch viel Kraft kostet und uns unbeweglich macht.

Diese Einstellung führt auch dazu, daß es uns oft schwer trifft, wenn wir etwas verlieren, einen Schlüssel, den Geldbeutel, eine Freundschaft, unsere Stelle oder sogar unseren Partner.

Wir sehen also, daß auf der "Durchreise" zu sein, meistens nicht so unsere Sache ist.

Die radikale Perspektive, von der Jack Kornfield spricht, ist uns fremd. Was für jemand, der im normalen Alltag lebt, vielleicht eine Famile hat, auch ganz natürlich erscheint. Wir streben nach einer möglichst gesicherten Existenz und dazu gehört auch Gepäck.

Ich denke, die beste Lehre aus der Geschichte ist es, über unser Gepäck nachzudenken. Im Alltag zu beobachten, was wir mit ihm wirklich machen aber auch, was es mit uns macht. Ob wir es nur mit uns herumschleppen oder ob es wirklich eine Bedeutung für uns hat. Und wir entdecken dabei sicher auch, daß es bei dem Gepäck nicht nur um Dinge geht, sondern auch um Menschen oder um Gewohnheiten, Ziele, die uns treiben. Auch hier gibt es vieles, was uns viel Kraft und Zeit kostet, uns aber letztlich nicht weiter bringt, ja sogar bremst. Stehen wir uns mit unserem Gepäck vielleicht selbst im Weg?

Die Geschichte ist schon verdammt interessant. Wir alle sind definitiv auf der Durchreise, ob wir es wollen oder nicht. Und wir lernen von dem Rabbi, daß wir viel zu selten einen Blick auf unser Gepäck werfen, obwohl es sich verdammt lohnen kann.

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