Donnerstag, 23. Juli 2015

Die Wege des Herrn

Seit einigen Jahre gehe ich in Etappen zu Fuß quer durch Deutschland. Die diesjährige Etappe startete heute. Deshalb bin ich heute mit dem Zug von München nach Fulda gefahren. Es sollte eine Fahrt mit Hindernissen werden.

In München ging es schon mit 15 min Verspätung los. Dann wurde der Zug über Augsburg nach Nürnberg umgeleitet. Eine Brücke war wohl defekt. Insgesamt ca. eine dreiviertel Stunde Verspätung.

In Nürnberg kein Anschluß mehr.  Was ist die schnellste Verbindung  nach Fulda, fragte ich die Experten von der Bahn? Erst in knapp zwei Stunden. Ein Blick auf den Fahrplan zeigte, ich könnte in einer halben Stunde nach Würzburg weiterfahren. Dort gab es zwar auch keinen schnelleren Anschluß, aber ich sagte mir, zumindest geht es dann irgendwie weiter. Gedacht - getan. Nochmal eine knappe Stunde auf dem Bahnsteig warten - bei über 30 Grad.

Angekommen in Würzburg wieder über eine Stunde warten. Nochmal auf dem Bahnsteig? Nein, irgendwie kam es mir hier noch heißer vor und vor allem voller, viel voller. Alle Bänke waren belegt. Überall standen die Leute gedrängt,  umringt von Koffern. Blickten Hilfe suchend oder frustriert um sich. Lamentieren laut, ließen ihrem Ärger freien Lauf. 

Ich mußte hier weg. Etwas unentschlossen lief ich auf dem Bahnhof umher.  Eine Stunde in Bahnhofsbuchhandlung? Nein, das war's nicht. Vielleicht konnte ich an der Auskunft doch noch eine andere Verbindung herausfinden. Aber doch dort war alles überfüllt. Ein halbe  Stunde in der Hitze anstellen, nur um hinterher zu erfahren,  daß es keine Alternative gibt? NEIN - ebenfalls abgelehnt!

Sollte Würzburg nicht eine schöne Altstadt haben? Ein Blick auf die Uhr, eine reichliche halbe Stunde hatte ich noch. War das sinnvoll? Egal, ich wollte es versuchen. Nur weg von diesem heißen nervtötenden Bahnhof. Einfach etwas bewegen und nicht schwitzend vor sich hinwarten.

Ich verließ den Ameisenhaufen von eiligen Reisenden und frustierenden Lautsprecherdurchsagen. Interessiert schaute ich mich auf dem Bahnhofsvorplatz um, erkundigte mich nach Weg in die Altstadt. Mitten in der Frage rauschte ein Moped nur wenige Zentimeter an meinem  Arm vorbei. Laut beschimpfte ich den Fahrer. Erstaunlicherweise entschuldigte der sich sofort. Nun gut - der Weg ging einfach geradeaus. Doch auch in der Stadt staute sich die Hitze. Ich wechselte die Straßenseite in den Schatten.

Alles wirkte recht öde. Es gab nicht einmal irgendwelche interessanten Geschäfte oder Lokale. Nur ein Sexshop versuchte mit recht bizarrem Spielzeug in einer lieblosen Auslage die Passanten hinein zu locken. Die posierenden Pappdamen wirkten ziemlich angestaubt. Sollte ich nicht besser wieder zum Bahnhof zurückgehen? Ich hatte sowieso nur noch eine halbe Stunde! Was wollte ich noch hier? Vielleicht konnte ich am Bahnhof noch ein kühles Wasser kaufen!

Ich kam an eine Kreuzung, sah mich um uns entschloss mich umzukehren. Da fiel mein Blick auf eine Kirche. Mir war sie erst schon aufgefallen. Aber von hier konnte ich erkennen, daß es sich um einen riesigen Bau handelte. Vielleicht sollte ich da mal einen Blick reinwerfen? Naja, vermutlich war die Tür sowieso geschlossen. Ich überquerte die Kreuzung und erstieg die Treppen zur Kirchentür. Diese war schlicht ohne den üblichen Zierrat und ließ sich zu meiner Überraschung leicht öffnen.

Angenehm kühle Luft  verdrängte die Hitze von draußen. Wunderbar! Vor mir öffnete sich ein weiter, sehr hoher Raum. Meine Schritte hallten leicht und es empfing mich Musik. Offenbar improvisierte jemand an der Orgel. Es war schön, sehr schön.

Ich ging einige Schritte, blickte nach oben. 20, 30 Meter über mit breitete sich die Decke aus. Die Sonne durchflutete den Raum. Aber das Licht war nicht grell, sondern weich und freundlich.

Die riesige Kirche war fast leer und so konnte der Raum seine ganze Wirkung entfalten. Kein barocker Schmuck, keine opulenten Deckengemälde fingen den Blick, lenkten ab von der Größe, von der Harmonie, die sich hier offenbarte.

In der Mitte setzte ich mich in eine Bank. Sah nach oben, staunte. Hielt inne, senkte den Kopf, schloß die Augen und faltete die Hände. Einfach so. Eigentlich nicht aus spirituellen Gründen. Oder vielleicht doch? Was war eigentlich Spiritualität? Ging es dabei nicht um diese Momente wie diesen jetzt? Momente, in denen die Zeit still zu stehen schien, oder zumindest langsam und würdevoll vor sich hin floß, wie ein breiter Strom. Momente, in denen man sein Seien so direkt fühlt, wenn ohne Worte klar wird, daß es da etwas größeres gibt, mit dem wir unzerstörbar verbunden sind. Wunderbare Momente!

Sanft erfüllte die Musik der Orgel den Raum und mit geschlossenen Augen, hatte ich das Gefühl als würde sie alles hier durchdringen, beseelen, zum Schwingen bringen. Ein Klang der Hektik, Unruhe, Unfrieden in den Gedanken, in der Seele wegspülte, auflöste. Und die letzten Stunden verblaßten, der Ärger löste sich auf und erschienen bald wie ein unscheinbares Gespenst in weiter Ferne.

Ich habe von der Bank aus ein kleines Video mit meinem Handy gedreht. Es ist nur ein kurzer Eindruck und die Qualität der Kamera, läßt sicher viele Wünsche offen. Aber es vermittelt ein Gefühl von diesen eindrucksvollen Momenten und ist ein sehr schöne Erinnerung für mich.

Leider blieb die Zeit doch nicht stehen und ich mußte wieder zum Bahnhof. Als ich die Kirchentür hinter mir schloß und die Treppe hinunterlief, dachte ich so bei mir, das Leben ist voller Überraschungen und öffter, als man glaubt, sind sie wunderbar.

Am Bahnhof holte mich die Realität schnell wieder ein, denn laut Ansage hatte der Zug nochmal 30min Verspätung. Da hätte ich wohl deutlich länger der Musik lauschen können. Aber was soll's, dachte ich. Sowohl die Hitze als auch das Gedränge erschienen mir nun deutlich erträglicher, amüsierten mich fast als ein absurdes Schauspiel. Und ich mußte an das Tao Te Ching denken. In Kapitel 2 steht:

alle wissen, daß schön das schöne
so gibt es das häßliche
alle wissen, daß gut das gute
so gibt es das böse
denn:
voll und leer gebären einander
leicht und schwer vollbringen einander
lang und kurz bedingen einander
hoch und niedrig bezwingen einander
klang und ton stimmen einander
vorher und nachher folgen einander

Mir wurde klar, warum die Musik in der Kirche mich so bezaubert hatte. Ich war dankbar dafür und verstand, warum es wichtig ist, die dunklen und die hellen Seiten unseres Seiens im selben Maße zu respektieren. Denn wie kann das eine ohne das andere sein?

Noch immer stand ich in der Hitze. Aber ich stellte mir vor, wie großartig mir wohl heute Abend das kühle Bier schmecken würde.

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