Samstag, 4. Mai 2013

Von Bettlern und Weisen

Manchmal hat eine kurze Begegnung mit einem unbekannten Menschen eine erstaunliche Würze. So sollte es auch an diesem 1. Mai geschehen.

Es war ein wundervoller Tag - voll Frühlingsduft, Vogelgesang, blühenden Wiesen und Kirschbäumen. Einfach großartig!

Unser Weg führte uns zur Isar. Der Fluß zog die Menschen in Scharen an.





Unter einer Brücke fiel mir ein Mann auf. Er saß im Schneidersitz und spielte auf seiner Panflöte.  Ein schönes Stück mit indianischem Einschlag. Sein langes kräftiges Haar fiel über die Schultern. Ich hatte ihn schon mehrfach hier gesehen. Letztes Jahr und ziemlich sicher vorletztes. Und davor? Wieviele es wohl sein mochten? Irgendwie schien er faßt zu dieser Brücke gehören. Ich ging auf ihn zu, nahm ein Geldstück und warf es in seinen Plastikeimer.

"Ich hab Dich schon öfter hier gesehen. Auch letzten Sommer. Ein schöner Platz.  Die Musik klingt gut unter der Brücke. Wieviele Jahre sitzt Du schon hier?"

Er überlegte.

"Ich weiß nicht genau. Aber es sind schon einige!"

Er überlegte wieder. Dann sah er mich an, lächelte.

"Zeit spielt keine Rolle! Zeit ist nicht wichtig!"

Überrascht von seiner Antwort schwieg ich, ging weiter. Er griff wieder zur Panflöte und zusätzlich zu seiner Gitarre. Es war ein fröhliches Lied - gut gespielt. Es klang nach viel mehr als etwas Geklimpere, um den Passanten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Da spürte man Freude an der Musik und ein gutes Gehör.

Seine Antwort ließ mich nicht los. Wir gingen spazieren. Die Menschen strömten an uns vorbei. Doch ich dachte an den Man mit der Panflöte, für den Zeit keine Rolle spielt.

War es einfach nur ein Bettler, der zuviel Zeit hatte? Für den Zeit wirklich keine Rolle spielte?

War es ein Weiser in Gestalt eines Bettlers, der eine Botschaft hatte, für die, die zuhören wollten?

Er erinnerte mich an den Fährmann in Hermann Hesses Siddhartha.

Da sitzt einer Stunde um Stunde am Fluß und meint, Zeit spielt keine Rolle. Er sah mich an und sagte das in diesem Ton der vollkommenen Gewissheit und zugleich mit einer Selbstverständlichkeit, einer Freude, die mich sprachlos machte.


Zeit soll keine Rolle spielen? Und was sie für eine spielte. Immer war sie zu knapp. Wenn man eines nur äußerst selten hatte, dann war es Zeit. Und allen, die man so kannte, den ging es nicht viel besser.

Ist Zeit ein so relatives Ding, mal größter Schatz, mal spielt sie keine Rolle?

Muß man erst Bettler sein, damit Zeit keine Rolle spielt?

Oder nehmen wir einfach die Zeit zu wichtig und er nimmt sie zu leicht, so wie eine Seifenblase? Wir laufen wie wild hinterher, um eine zu erhaschen und er läßt sie einfach an sich vorübergleiten, läßt sie mit den Fingern zerplatzen, wenn ihm eine zu nahe kommt!

Ist Zeit nicht einfach das Gefäß in das wir unsere Träume und Wünsche füllen? Und wir haben viele Träume und Wünsche. Hat er keine Träume und Wünsche?

Was ist es wohl für ein Gefühl, wenn man so dasitzt, Stunde um Stunde und die Zeit keine Rolle spielt?

Wenn die Zeit keine Rolle spielt, was spielt dann eine Rolle?

Muß überhaupt etwas eine Rolle spielen? Kann man sich wirklich an den Fluß setzen, ihm lauschen Stunde um Stunde, mit ihm verschmelzen. Nichts spielt eine Rolle!?

Haben wir nicht oft viel zu viel in unserem Rucksack? Schleppen uns ab. Wozu?

Lohnen sich die Schweißperlen, die zusammengequetschten Tage wirklich?

Was würde passieren, wenn man ihn irgendwo vergessen würde - diesen Rucksack?

Die Fragen gehen nicht aus.

Und der Mann mit der Panflöte spielt sein schönes Lied, lauscht dem Fluß, denn Zeit spielt ja keine Rolle.

Alle Fragen lösen sich auf im Strom der Zeit.





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